Simmel, Weber – und kein Ende. Konnte 2018 der 100. Todestag des Ersteren mit zahlreichen internationalen Konferenzen[1] und einem pünktlich zum Jubiläum erschienenen Handbuch[2] noch gebührend in ‚Realpräsenz‘ gefeiert werden, machte die Corona-Pandemie, soweit ich das überblicke, den Planungen zu Webers Gedenken 2020 doch weitgehend den Garaus.[3] Dennoch, auch die Max Weber-Gesamtausgabe ist nun endlich abgeschlossen und wird zumindest publizistisch angemessen eskortiert; Klaus Lichtblau etwa, eigenwillig wie stets, reklamiert neuerdings, das erste Beispiel einer „historisch-kritischen Einführung“ gegeben zu haben und bringt wieder den Begriff der „Vergemeinschaftung“ ins Spiel.[4] Im Anschluss an Niklas Luhmann, der es liebte, den Gründervätern des Fachs gerade keine Reverenz zu erweisen, meinte er doch, „Autoren werden zu Klassikern, wenn feststeht, daß ihre Zeitdiagnose überholt ist; denn dann muß man einen anderen Grund finden, sich mit ihnen zu beschäftigen, und der kann nur sein: daß andere sich mit ihnen beschäftigen“,[5] möchte ich fragen, ob die Simmel- und Weberindustrie insgesamt wirklich Neues zu Tage fördern kann. Natürlich bleibt der Zugriff notwendig punktuell, da es hier nur um eine von Gerald Hartung und Tim-Florian Steinbach herausgegebene Aufsatzsammlung zum besseren Verständnis von Simmels Philosophie des Geldes, eine recht umfängliche Gesamtdeutung Max Webers aus der Feder Hans-Peter Müllers und ein neues Buch von Wolfgang Schluchter, das unter anderem den ‚Gesellschaftstheoretiker‘ Weber umkreist, gehen wird. Allein, ein dunkles Gefühl, dass an Luhmanns Spott etwas dran sein könnte, hat gewiss jeder mit den soziologischen Klassikern und der sie überwölbenden Forschung Befasste schon einmal verspürt.
Zunächst aber: Simmel-Exegese hatte zuletzt verblüffende Hochkonjunktur. Die Italiener zum Beispiel lieben ihren Simmel heiß und innig, Schauspieler, soziale und ästhetische Formen, Erster Weltkrieg und seine Gedanken zur Zukunft Europas, das sind Standards, die in der italienischen Rezeption immer wieder gespielt werden. Doch schon hier tauchen neue Perspektiven auf, zum Beispiel Liebestheorie, Intersubjektivität und Handlungsbezug, Simmel und die Wissenschaftstheorie, Simmel und die analytische Philosophie;[6] eine französisch-italienische Kooperation gar hat Simmel, auf den ersten Blick etwas erratisch, – mit einer seiner Lieblingsmetaphern zu sprechen – als „Senkblei“ einer architekturtheoretischen Debatte angesetzt.[7] Sodann hat Austin Harrington in einer nur als heroisch zu bezeichnenden Anstrengung (Simmel ist nicht leicht zu übersetzen) für das anglophone Publikum sämtliche ästhetische Texte abzüglich der Goethe- und Rembrandt-Monografien vorgelegt.[8] Während ich selbst längst nicht alles für erinnerungswürdig halte,[9] ist neben seiner Kärrnerarbeit vor allem Harringtons 80-seitige, kontextsensitive Einleitung zu loben. Gregor Fitzi schließlich hat bei Routledge auch für die englischsprachige Welt ein Handbuch realisiert: Paritätisch sind hier die knappen, doch fundierten Überblickstexte nach Disziplinen (Soziologie, Philosophie, Ästhetik und so weiter), aber auch Darstellungsformen, Rezeption und „topics of debate“ wie Freiheit, Krieg und Ökonomie sortiert.[10] Es kann also auch dort niemand mehr sagen, er habe von Simmel nichts gewusst.
Besonders und zu Recht um den Philosophen Simmel hat sich Gerald Hartung bemüht. Die nun vorliegende Dokumentation der Wuppertaler Konferenz[11] fragt, um nur einige Stichworte zu liefern, mit hoher Insistenz danach, ob überhaupt ein systematischer Philosoph Simmel isoliert werden kann, verteidigt unter anderem den Relativisten (Johannes Steizinger, Tim-Florian Steinbach) gegen die seit Jahren eingerissene, doch glättende Rede vom ‚Relationisten‘, entdeckt in ausführlichem Doppelporträt die beinahe vergessenen Simmel-Schüler Herman Schmalenbach und Willy Moog wieder (Nicole C. Karafyllis), konfrontiert ihn mit der Phänomenologie Husserls sowie Edith Steins (Ingo Meyer, Antonio Calcagno) und fahndet nach der metaphysischen Funktion des Gottesbegriffs (Matthieu Amat). Auch Soziologen wären künftig gut beraten, gelegentlich einen Blick in diesen Band zu werfen. Hartung allerdings verantwortet auch – noch ein Simmel-Handbuch.[12] Muss das wirklich sein? Unbedingt, meint er, der Müllers und Reitz‘ Band,[13] dessen 500-seitiger Hauptteil in möglichst gedrängten Artikeln Begriffe erläutert, wohl als allzu kompilatorisch-aktualisierend, soziologistisch auch, empfinden mag. Nach allem, was man sagen kann und soll (ich bin selbst Mittäter), versucht sich dieser Band an einer Übersicht der Werkentwicklung und „Hauptthemen“ sowie an recht ausführlichen Einzeldeutungen der Monografien, aber auch Werkgruppen wie Kunstphilosophie oder Religion. Abgerundet wird das Ganze von kurzen Porträts seiner Schüler und einem Abriss der interdisziplinären und -nationalen Wirkungsgeschichte des Simmel’schen Werks – von Soziologie ist zumindest im Inhaltsverzeichnis sehr wenig die Rede.
Nicht vergessen sei an dieser Stelle ein ebenfalls von Gerald Hartung und Tim-Florian Steinbach verantworteter und allein der Philosophie des Geldes, Simmels wohl originellstem Buch, gewidmeter Band in Ottfried Höffes Reihe „Klassiker Auslegen“,[14] den ich im Folgenden diskutieren möchte. Auch hier erklingt der Marschbefehl, „Simmels Werk in die Philosophie zurückzuholen“ (S. V), ja sein Buch werde „als Soziologie oftmals missverstanden“ (S. 17). Man weiß, die ersten 100 Seiten der Philosophie des Geldes bereiten wenig Freude, da sich Simmel verpflichtet fühlt, Wert, Wirklichkeit und Tausch, „Begehrungsaffekte“ und Erkenntnistheorie möglichst rein, also abstrakt zu entwickeln – und man weiß nun auch warum, da Guido Kreis die Ausführungen wohltuend nach aktuellen Begrifflichkeiten ordnet. Kein metaphysischer Realismus, sondern „moderater Idealismus“, aber auch kein ontologischer Dualismus zwischen Natur und Geist (S. 23 f.), dafür ‚Werte‘ als ein Drittes; das große, selbstverschuldete Problem des Neokantianismus. Aber wie erlangen sie als objektivierte ihre Geltung? Kreis macht klar, dass Simmels Verquickung oder besser: Nebeneinanderstellen von transzendentaltheoretischer Sphäre reiner Geltung, „Metaphysik absoluter Werte“ und empiristisch-phylogenetischer Begehrenstheorie so gar nicht zusammengehen will (S. 35 f.). Man bricht eben nicht ungestraft aus dem Käfig Lotzes, Windelbands und Rickerts aus.
Christian Papillouds Ausführungen zur Objektivation der ökonomischen Tauschwerte dagegen beschränken sich auf ein close reading. Werte hingen nicht an Objekten, sondern am Tausch (S. 54), Simmels Metapher der „Opferlogik des Tausches“ (S. 44) jedoch wird nicht entfaltet, sondern unkommentiert übernommen; im Tausch entstünden Werte, „die die Akteure allein nicht mehr bestimmen können“ (S. 53), und aus ihrer Vergleichbarkeit im Wirtschaftssystem resultiere auch der Mehrwert, „[m]an bekommt zumindest so viel, wie man gegeben hat“. So entstehe „eine spekulative Wirtschaft im Sinne der Produktion von Mehrwerten aus Mehrwerten“ (S. 47). Ob derart aber „Wirtschaft als reine Regulationstätigkeit“ (S. 55) verständlich wird, wage ich zu bezweifeln – und Sätze wie: „Anders gesagt, bildet die Opferlogik die Grundlage der Spezialisierung in der Wirtschaft sowie die Grundlage der Arbeitsteilung, ohne dass deswegen die Identität der Arbeit als ‚Werk‘ verschwindet“ (S. 45), nähern sich der Hermetik. Könnte man nicht besser sagen, dass Simmel hier eine zweistufige Transzendenz oder Objektivation der Werte denkt, die erste als Entäußerung bedingt vom subjektiven Begehren (GSG 6: S. 58f.), die zweite bereits ‚sozialisiert‘ im „lebendigen Prozeß der Relation“ (GSG 6: S. 74)? Papilloud nennt zudem im Literaturverzeichnis einige interessante Titel aus der neueren Forschung – von denen freilich kein einziger diskutiert wird. Und hätte es, wenn schon geopfert und getauscht wird, einem französischen Soziologen nicht angestanden, auf etwaige Verbindungslinien zu Marcel Mauss, Claude Lévi-Strauss und René Girard hinzuweisen? So aber gerät seine Exegese weniger nachvollziehbar als der Originaltext.
Martin Kusch rehabilitiert aus analytischer Perspektive Simmels „infinitistische Theorie der epistemischen Rechtfertigung [...,] Zirkularität und Wechselwirkung innerhalb eines Überzeugungssystems; seine evolutionäre Erkenntnistheorie und deren Verkopplung mit dem Modell epistemischer Wechselwirkung; die Umdeutung philosophischer Positionen zu Forschungsstrategien; das dialektisch-pluralistische Zusammenspiel gegenläufiger Methoden; und [... die] Lösung bezüglich des Problems der Selbstwiderlegung“ (S. 77 f.), all das geht hier viel besser zusammen als Transzendentalismus und Evolutionismus in der eigentlichen Werttheorie (S. 69). Kusch bringt den Begriff des „‚Suchscheinwerfer-Modells‘“ (S. 66), ich bevorzuge die Raumschiff-Metapher: Kognitive und Wissenssysteme arbeiten erst bei hinreichender Komplexität und Distanz zum Gegenstand ertragreich-selbstläufig, heben gleichsam ab und erweisen sich dabei antiholistisch als erstaunlich unempfindlich gegenüber der Revision ihrer Einzelelemente. Man vermisst nur Hinweise auf Niklas Luhmanns durchaus benachbarte Epistemologie, Stichwort Paradoxieentfaltung, und John-Stewart Gordon, der als erster Philosoph aus dem analytischen Lager die relevanten Passagen (GSG 6: 95 ff.) bei Simmel erst entdeckte.[15]
Ralf Becker widmet sich nun dem prominenten, ebenfalls relativistisch gedachten Übergang vom Substanz- zum Funktionswert des Geldes, wobei sich der Geldpreis „aus der doppelten Verhältnisbestimmung zwischen dem Anteil der Ware am wirksamen Gesamtwarenvorrat sowie zwischen diesem Verhältnis seinerseits zum verfügbaren Gesamtgeldvorrat“ (S. 85) ergebe. Becker legt großen Wert darauf, dass sich in diesem säkularen Abstraktionsprozess, der bekanntlich auch die moderne kulturelle Sublimierung provoziere, nach Simmel der Substanzwert des Geldes niemals zur Gänze verflüchtigen könne, der Mensch brauche nach wie vor ‚Aufhänger‘, etwa Zahlen oder – Symbole (S. 83, 87, 90). Dass nun noch Ernst Cassirer auftaucht, liegt nahe, eine Klärung beider Symbolbegriffe aber erfolgt nicht: Verdichtung, Kristallisation und Verkörperung (S. 82) reichen zur Beschreibung dieser hochproblematischen kognitiven Bildform nicht aus.[16]
Ein erster Tiefpunkt ist mit Arno Schubbachs in einem grauenhaften Stil (wie zu SED-Zeiten dreimal „des“ in einem Satz [S. 114], dann auch noch zweimal „wiederzuspiegeln“ [sic!] [S. 118] etc.) verfertigten Beitrag erreicht, der überdies in permanenten Rekapitulationen über weite Strecken das von Becker soeben Ausgeführte wiederholt.[17] Hier soll endlich der Zusammenhang von Symbolwerdung des Geldes und Vergesellschaftung erhellt werden (S. 107). Schubbach nimmt Simmels Metapher der „Kristallisation“ ebenfalls auf, versäumt aber zu erläutern, dass sie in dessen Gesamtwerk stets den Umschlagsprozess von kreativen Energien in Objektivationen, etwa in Kunstwerke (subjektiv) oder Institutionen/soziale Formen (kollektiv) benennt. Geld, als Zirkulationsmedium selbst auf eine Vertrauensinstanz gegründet – das meint die Rede vom Geld als „Anweisung auf die Gesellschaft“ (GSG 6: S. 213)[18] –, zentralisiere soziale Strukturen und penetriere Welt überhaupt in bisher ungekanntem Ausmaße (S. 112). Wortgleich wiederholt Schubbach auch Simmels angebliche „Anleihen beim Deutschen Idealismus“ (S. 120, 122), doch wessen Idealismus? Für die Einsicht, dass sich, universalhistorisch betrachtet, die Kultur zunehmend vergeistigt, braucht man keinen Hegel, der wohl allein infrage käme – und den Simmel meines Erachtens vor 1905 nicht intensiver rezipiert hat. Und die in Aussicht gestellte Klärung des Symbolbegriffs? Darob verweist Schubbach auf den letzten Zeilen auf Annika Schlitte, deren Dissertation es auf 500 Seiten aber gerade nicht vermochte, verbindlich zu entscheiden, welchen Symbolbegriff Simmel verwendet,[19] den kosmologisch-metaphysischen der Goethezeit oder den unspektakulär-pragmatischen angelsächsischer Provenienz, der nicht mehr bedeutet als jede Art von repräsentierendem Zeichen. Die Antwort ist leider: Simmel meint (gerade in der Philosophie des Geldes) mal diesen, mal jenen, er hat seinen Sprachgebrauch nie geläutert. Schubbach aber fasst bereits die dezidierte Verteidigung der Induktion und das Finale (GSG 6: S. 12, 716) der Schrift als Adaptionen des Goethe-Symbols – und fragt sich nicht, wie solch eine substanzialistische Bildform, die zudem noch ein intaktes Buch der Natur voraussetzt, denn mit Simmels Relativismus zu vereinbaren wäre.
Schlitte selbst widmet sich dem dritten Kapitel zum „Geld in den Zweckreihen“ und lässt damit ihre Symbolforschung hinter sich. Simmel deute das teleologische Handeln der überkommenen Moraltheorie „eher psychologisch-formal“ als Zweckhandeln um (S. 128) und erst aus der zunehmenden Umständlichkeit, der berühmten ‚Verlängerung der Zweckreihen‘ entstünden die Institutionen, vom handgreiflichen Werkzeug bis zur abstraktesten Einrichtung, beispielsweise des Geldes, dessen Differenzierungsfähigkeit seine Existenz, durchaus paradox, bereits voraussetze (S. 137). Wenn man sich darauf einigen kann, dass Institutionen Bedürfnisse befriedigen und ebenso allererst erzeugen, wäre Geld die Institution schlechthin. Schlitte bemerkt die Nähe dieser Ausführungen zur philosophischen Anthropologie (S. 131), widmet sich dann aber den Folgen der „Charakterlosigkeit des Geldes“ (S. 134); Geiz, Verschwendung, Macht, Armut und so weiter seien allesamt Variationen der metaphysischen „Kategorie der Möglichkeit“ (S. 136), die das Geld wie kein anderes Phänomen versinnfällige.
Brilliant dagegen ist Thilo Wesches Interpretation des vierten Kapitels zur individuellen Freiheit, die er strikt auf Simmels Eigentumstheorie in Differenz zu Marx‘ und Webers Entwürfen (S. 149) fokussiert. Schon Eigentum erscheine bei Simmel als ein „Tun“, das Selbstbestimmung verlange – die nur über „Weltbeziehung“ möglich sei (S. 147). Eigentum führe so zu Erweiterung des Ich; komme nun das Äquivalent des Geldeigentums (Simmel trennt nicht zwischen Besitz und Eigentum) ins Spiel, ist, à la Erving Goffman, bereits das „Individuum im öffentlichen Austausch“. Zusammen mit der imaginären Potenzialität des Geldes (was man sich alles leisten könnte...), wird einsichtig, warum für Simmel in diesem Buch „Geldwirtschaft und individuelle Freiheit“ gleichursprünglich sind (S. 149), ja: „Geldeigentum erlaubt insoweit eine imaginierte Ausübung von Freiheit“ (S. 151). Genau dies aber trenne letztlich die Weltbeziehung und führe zu den Aporien der Individualisierung, gar „Entsolidarisierung“ qua Abstraktion vom Sozialen. Die Freiheit, die das Geld verspricht, ist insofern chimärisch beziehungsweise bietet, etwa im neohumanistischen Sinn, gerade keine Erfüllung, da es „Freiheit erzeugt und zugleich verhindert“ (S. 153). Das ist reiner Simmel, der immer das Für und Wider der sozialen Phänomene gewichtet, doch wenn ich Wesche richtig verstanden habe, ist Simmels Sicht der Dinge auch strikt personalistisch und damit liberal; dass man mit ihm „Formen des gemeinschaftlichen und öffentlichen Eigentums“ nicht denken könne (S. 156), verwundert daher kaum.
Der Tiefpunkt des Bandes ist erreicht mit Christian Thies‘ Deutung des wenig bekannten fünften Kapitels zum „Geldäquivalent persönlicher Werte“, die mit Lamenti über Simmels mangelnde Systematik und besondere Verworrenheit einsetzt (S. 159). Nun, lesen und Abstand nehmen müsste man können, dann ließe sich bemerken, dass dieses Segment erkundet, was das makrosoziologische Faktum der geldinduzierten Differenzierung aus den Menschen macht (etwa GSG 6: S. 499 f., 503 f.), insofern also höchst stringent an das vierte Kapitel anschließt. Thies paraphrasiert aber nur Simmels Ausführungen zu mittelalterlichem Wergeld, Prostitution, Psychologisierung der Arbeit, Freiheitsproblematik und die Nivellierungsthese der Kultur, die er für verfehlt hält (S. 164), als wäre zum Beispiel nicht evident, dass diejenigen Kohorten aus der Generation Smartphone, die heute eine Universität beziehen, kaum noch artikulationsfähig sind und mit Vokabeln wie „Bismarck“ oder „Vietnamkrieg“ nichts mehr anfangen können. Simmel hat völlig Recht, je höher das allgemeine Niveau einer Kultur, desto niedriger kann das der Individuen sein – sie werden trotzdem mitgenommen (GSG 6: S. 537 f.), notfalls per Gesetz. Dafür wiederholt Thies den Simmel immer wieder zugeschriebenen Unfug einer „erlösenden Kraft der Kunst“ (S. 163), der mir bei ihm bisher nirgendwo begegnete (allerdings gediehen bei Max Weber solche Gedanken).[20] Undurchsichtig und dunkel lautet Thies‘ basso continuo, der „normative Hintergründe“ vermisst und sich gegen die Verabschiedung einer so ausgerichteten Ethik bei Simmel sträubt (S. 168, 172). Der Autor ist von der Gravitation Simmel‘schen Denkens völlig unberührt, obwohl doch einem Philosophen (!) beifallen könnte, dass schon Hegel in der Rechtsphilosophie (§§ 191–194) die „Verfeinerung“ der Bedürfnisse für die Freisetzung der Subjekte vom Naturzustand als gröbster Not verantwortlich macht und die ‚Verlängerung der Zweckreihen‘ denkt. Ein Armutszeugnis.
Steil bergauf geht es wieder mit Oliver Müllers Teildeutung des berühmten sechsten und letzten Kapitels „Der Stil des Lebens“. Simmels Beobachtung einer Verkehrung oder Verselbstständigung der Mittel gerinne bald zum „kulturkritischen Topos“ (S. 177), Heidegger, Hannah Arendt, dann die Tragödie der Kultur und die Nähe zur Depotenzierung des ratioiden Ichs im losen Anschluss an Sigmund Freud (S. 186); ich meine, man kann all das als Variationen des hegelmarxistischen Entfremdungstheorems begreifen – das Simmel um 1900 im Original allerdings nicht gekannt haben dürfte. Müller betont, dass Simmel auch der Entdecker der Technik als philosophischem Thema sei (S. 185), man bedenke, was Heidegger daraus gemacht hat. Interessiert hätte mich noch, wie genau bei Simmel „die ökonomische Rationalität [...] auch die maßgeblichen Subjektivierungsformen einer Zeit vorgibt“ (S. 179), denn unwillkürlich denkt man dabei an Georg Lukács‘ Verdinglichungsthese des Denkens selbst im Kapitalismus.[21] Gleichwie, Simmel ist hier Prozesstheoretiker einer ‚offenen‘ Moderne mit ihren ungeheuren Freiheitsgraden und Restriktionen zugleich. Dass Simmels Moderne nicht mehr in einer Letztreferenz wie dem absoluten Geist à la Hegel terminiere und er dennoch frage, wie eine menschenwürdige Existenz heute aussehen könne, mache seinen Rang aus (S. 188 f.).
Tim-Florian Steinbach ist ehrgeiziger und ordnet den letzten Abschnitt more geometrico, nämlich – apriorisch-kantianisch? – nach räumlicher und zeitlicher Differenzierung, also über „Symmetrie“ oder ‚Distanz‘ und „Rhythmus“ oder ‚Beschleunigung‘ (S. 194, 197). So sei nicht nur verstanden, sondern auch begreiflich gemacht, wie sich der analytische und synthetische Teil des Buches zueinander verhalten, sie „entspringen dieser doppelten Funktion des Geldes, die sie zugleich explizieren“ (S. 197). An anderen Stellen (S. 204 f.) erscheint das Geld jedoch eher als unbewegter Beweger, genauer: als Idee invariant, als Medium schlechterdings fluide. Simmel wolle als Basis einer modernen Kulturtheorie, die die „Relativität des Seins als Grundstruktur“ all dessen, was ist, anerkennt, „Beharrung und Bewegung zusammendenken“ (S. 205 f.), ok, aber hier wird schlicht zu viel verhandelt, zum Beispiel die Hermeneutik des Du qua Analogieschluss, Bewusstseinsphilosophie und Simmels Differenz zum transzendentalen Husserl, Relativismus und Philosophie des Geistes (S. 193, 201, 206). All das müsste man etwas entzerren. Mir kam die spontane Idee, will Steinbach die Summe der Philosophie des Geldes ins Korsett der kantianischen Urteilskraft stecken? Als bloß gedachte Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, Sinnlichkeit und Verstand? Und, da Simmel der Vernunftphilosophie abhold ist, nähme dann das Geld den Platz einer regulativen Idee ein? Das wäre originell, müsste in diesem Fall aber explizit gemacht werden. Gérard Raulets knappe Rezeptionsgeschichte nicht nur der Philosophie des Geldes (S. 209–227) beschließt den Band.
Hartungs Bestreben, das Buch „auf systematische Kohärenz zu prüfen“ (S. VI), dünkt mich damit nur halb gelungen. Seine Entscheidung, auch Novizen zur Simmel-Exegese zu bitten (S. V), ist löblich, aber bei manchem Beiträger will es scheinen, als hätte er nur die ihm zugewiesenen Textsegmente konsumiert. Und natürlich ist das Buch als kulturphilosophisches, wie schon Hans Blumenberg betonte, einer der wenigen kohärenten Entwürfe nach Nietzsche.[22] Mir selbst drängt sich der Gedanke auf, dass Simmel hier, freilich nicht realhistorisch, sondern eben kulturphilosophisch, die Geschichte eines ‚großen Übergangs‘ erzählt. Geht es nicht um die Konstitution des Geistigen im Wert als Urszene, die Ablösung der Substanz durch die Funktion beziehungsweise Relation, die Pazifizierung, ja Menschwerdung durch den Tausch, wenn Simmel meint, dass „eben dasselbe, was den Menschen rein tatsächlich-psychologisch von der niederen Tierreihe scheidet: die Fähigkeit der objektiven Betrachtung, des Absehens vom Ich mit seinen Impulsen und Zuständen zugunsten der reinen Sachlichkeit – daß eben dies dem geschichtlichen Prozeß zu seinem vielleicht edelsten, veredelsten Ergebnis verhilft, zu dem Aufbau einer Welt, die ohne Streit und gegenseitige Verdrängung aneigenbar ist“ (GSG 6: S. 386)? Und dies wäre nur ein Beispiel; vielleicht ließe sich diese Geschichte auch anhand etwa der Ehe, der Arbeit oder der Tischsitten erzählen? – Immerhin fällt ja auf, dass nach 1900 bei Simmel vom Geld und Tausch eigentlich keine Rede mehr ist; die Probe wurde gegeben. Hartung selbst erblickt im Buch „ein krisenhaftes Szenario von enormer Wucht“, nämlich den „Übergang“ zur „Labilität“ aller Verhältnisse (S. 14). Nur: Die Labilität wird bleiben, Resubstanzialisierungsbemühungen sind chancenlos – diese Diagnose wohl macht, gerade im Kontext des deutschphilosophischen Diskurses, Simmels Größe aus.
Vielleicht aber wäre es besser gewesen, die Autoren auf abstrakte Themen wie Erkenntnis-, Medien- und Werttheorie, Ethik, Moderne und so weiter zu verpflichten und jeweils das ganze Buch explorieren zu lassen, statt sie auf asymmetrisch verteilte Einzelsegmente anzusetzen, denn schon Simmels Zweiteilung der sechs Kapitel in einen analytischen und synthetischen Teil, die hier sehr ernst genommen wird, kann man in ihrer Tragfähigkeit bezweifeln, denn es ist zum Beispiel schwer einzusehen, warum die langen Passagen über den Geizigen ‚analytischer‘ sein sollten als die Beschreibung der Großstadtkultur. Und ehrlich gefragt, braucht Simmel überhaupt diese ganzen Handbücher, Einführungen, Auslegungen? Kein relevanter Denker der Moderne sperrt sich so wie er gegen jede Art von Kästchenwissenschaft, Systematisierung, ja ‚Methode‘, die ihm einem Denkverbot gleichkam (GSG 14: S. 409). Ich meine, er braucht sie nicht, denn schließlich ist er (relativ eleganter) Essayist, kein autistischer Begriffsphilosoph – der übrigens keine obscuritas kennt, man kann immer gut folgen. Deshalb: Extrem hermetischen Büchern wie der Phänomenologie des Geistes oder Spinozas Ethik möge man Einführungen und Kommentare beigesellen, aber der Philosophie des Geldes? Man lese sie einfach, notfalls von hinten nach vorn oder zunächst kursorisch, um irgendwo ‚hängenzubleiben‘. Das gilt erst recht für die kleinen Essays; wer sich nicht für „Die Persönlichkeit Gottes“ interessiert, probiere eben die „Psychologie des Schmuckes“ oder „Die Koketterie“. Und wer dort noch immer nichts Erhellendes für die Interaktionsanalyse oder frappante Einsichten in vermeintlich randständige kulturelle Phänomene findet, ist vielleicht doch besser bei Max Weber aufgehoben.
Hans-Peter Müller, dessen Ehrgeiz es zu sein scheint, der Beschäftigung mit allen soziologischen Klassikern eine brauchbare Grundlage anzubieten,[23] hat pünktlich im Juni 2020 zum Weber-Jubiläum eine bisher wenig beachtete Spurensuche vorgelegt,[24] die natürlich auch und vor allem eine Einführung ist. Dieser Arbeit voraus gingen ein Weber gewidmeter Lehrbrief der Fernuniversität Hagen und eine Darstellung von 2007, sodass hier recht eigentlich Müllers dritte Annäherung vorliegt. Es versteht sich auch, dass vieles von dem, was der frühere Band „für Studierende aller Fachrichtungen“ vorträgt,[25] wieder auftaucht, etwa der Hinweis, dass Weber mittlerweile gar in China boome (M: S. 146),[26] doch hat Müller im Vergleich dazu den Umfang der neuen Monografie beinahe verdoppelt.
Es gibt zu Recht keine biografischen Akzente, da der geneigte Leser diesbezüglich zuletzt überversorgt wurde,[27] dafür werden „Konstellationsanalysen“ und „Tiefenbohrungen“ (M: S. 19) versprochen. Ziel ist es, Weber als den Denker zu präsentieren, der am intensivsten darüber nachgedacht habe, woher wir kommen und wo wir stehen, um 1900 ganz so, wie noch heute. Deshalb ist der Zugriff wesentlich systematisch – Wissenschaftslehre, Protestantismusthese, Religion, Wirtschaft, Politik, soziale Ungleichheit –, aber intermittierend versehen mit historisierenden Ausflügen; Weber in Amerika, der Erste Weltkrieg. Ihn jedoch gleich eingangs mit und gegen Marx sowie Nietzsche zu profilieren (M: S. 17), halte ich für künstlich, denn konkrete Nachweise der Beschäftigung mit Marx fallen „mager“ aus, solche für Nietzsche „noch dürftiger“.[28] Das kann nicht verwundern, hätte Letzterer bei wirklicher Textkenntnis mit seiner bildhaften, so gar nicht begrifflich kontrollierten Rede Weber doch als Paradebeispiel des ‚Literatengeschwätzes‘ gelten müssen. Was er von ihm wusste, las er wohl in Simmels einschlägigen Texten.[29]
Dann aber folgt schon zu Beginn mit der einst von Marianne Weber, über Fichte promoviert, missverständlich so benannten Wissenschaftslehre die bittere Pille schlechthin. Weber hatte eigentlich keine Lust auf Wissenschaftstheorie, Müller wohl auch nicht, doch geht es glimpflich ab: Weber propagiere Soziologie als „dritte Kultur [...] zwischen Natur- und Geschichtswissenschaften“ und soziologische Erklärung erfasse ihren Gegenstand nach Kausalität, Konstellation, Genese sowie „projektive[r] Zukunftsanalyse“ (M: S. 49). All das, Idealtypus (M: S. 53 ff.), Werturteilsfreiheitspostulat und so weiter, sitzt, doch „[e]igentlich formuliert es eine Banalität“ (M: S. 56). Ich sehe das auch so, diese Ansammlung von hoch umstrittenen,[30] doch „unsagbar trockenen“ Aufsätzen[31] hat uns eigentlich nichts mehr mitzuteilen. Der Idealtypus beschreibt trotz aller Weber‘schen Umständlichkeit nichts anderes als den Vorgang der Begriffsbildung; was hier „aufwendig und angestrengt erkämpft“ wird, ist trotz aller Reflektion über Verstehen, Kausalprinzip, Gesetzeswissenschaft etc. schlicht „subjektive Begriffskontrolle“.[32] Der Appell an die Werturteilsfreiheit mochte zur Zeit des vom Katheder gepredigten, geifernden Chauvinismus (an dem der frühe Weber bekanntlich eifrig mittat), der frühen Weltanschauungsgermanistik etc. geboten sein,[33] heute belehrt uns die kognitive Neurobiologie, dass wir ohne permanentes Bewerten gar nichts erkennen könnten,[34] schon das Sich-Fokussieren auf etwas ist Bewertung – man sollte es nur wissen. Auf dieser Website war abgebildet, wie Adorno mittels Brief vom 23. April 1964 vergeblich versucht hat, Ernst Bloch zum Weber gewidmeten Heidelberger Soziologentag zu locken, trotz „all dem wissenschaftstheoretischen Quatsch“.[35] Mit dem für manchen noch immer sakralen Objektivitäts-Aufsatz war Weber, der diesen Werkkomplex selbst nicht sehr hoch einschätzte,[36] besonders unzufrieden,[37] und dass man heute nirgendwo mehr eins zu eins an dessen Methodologie anschließen kann, wurde ebenfalls notiert.[38] Müller behilft sich und meint, „Webers ‚Wissenschaftslehre‘ ist eine Lebenslehre“ (M: S. 65), bloßes Ethos, was überdies den Vorteil hat, die berühmte Rede „Wissenschaft als Beruf“ als popularisierende Summe lesen zu können.
Die von Weber erst spät entwickelte charismatische Herrschaft hingegen halte ich für mittlerweile zu Tode diskutiert und gern auch überstrapaziert, wie etwa in Hans-Ulrich Wehlers Darstellung des Nationalsozialismus, dessen Durchsetzungskraft er wesentlich an die Kombination aus Hitlers Charisma und einem radikalisierten Nationalismus von 1933 bis zum bitteren Ende knüpft.[39] Müller ist nun vorsichtig und pragmatisch genug, um zu wissen, dass der Begriff Phänomene vom Zauberer bis zum Staatenlenker abdeckt (M: S. 214), versucht, ihn aus den nationalistischen Diskursen des Kaiserreichs abzuleiten und ihn doch bis hin zu aktuellen demokratietheoretischen Fragen zu treiben. Wenn dazu aber noch ein „‚Charisma der Vernunft‘“ (M: S. 217, 226)[40] bemüht werden muss, dann möchte man fragen, ob es wohl auch ein Charisma des Alphabets gibt? Also nein: Natürlich existiert, selten genug, genuines Charisma, allerdings korrespondiert ihm notwendig die Bereitschaft zum Wunderglauben,[41] die säkularen Gesellschaften schlecht anstünde. Auch betonte Weber selbst im Brief an Arthur Salz vom 15. oder 22. Februar 1912, diese Herrschaftsform sei eine der Vergangenheit – und das sei gut so.[42] Anspruchsvolle, historisch belastbare Analysen sozialer Phänomene lassen sich mit dem Charisma-Konzept meines Erachtens nicht erzeugen.
Die Protestantische Ethik gilt Müller als Beispiel einer „historisch-empirischen“ Studie (M: S. 69), sehr wohl unter Nennung von Heinz Steinerts Buch, das in einem Fundamentalangriff das genaue Gegenteil behauptet.[43] Tatsächlich ist man ja beim Lesen der Abhandlung ungeheuer enttäuscht, dass für die Evidenzbeschaffung nur zahllose Lektürefrüchte meist sekundärer Provenienz aneinandergereiht werden. Obwohl beispielsweise Signifikanz des Luthertums „bis auf die Physiognomie der Menschen“ und Relevanz der „religiösen Tagebücher“ behauptet wird (RS I: S. 127, 136), traut sich Weber an die Analyse zum Beispiel der so überreich vorhandenen Bildquellen und Selbstdarstellungen oder gar die Laienliteratur nicht heran. Müller aber hat Recht, wenn er darauf hinweist, wie der eigentliche Impetus Webers unter ganzen Bibliotheken von Interpretationen verschüttet ist, referiert die Kernthesen bündig und befindet, Weber habe zeigen wollen, „wie eine Ideengeschichte soziologisch auszusehen hätte“ (M: S. 89). Das ist sicherlich der kleinste gemeinsame Nenner zur ‚Weber-These‘. Und von Kapitalismus werde bitte nur da gesprochen, „wo eine erwerbswirtschaftliche Bedarfsdeckung durch Unternehmen auf der Grundlage rationaler Kapitalrechnung stattfindet. Kapitalistisch ist eine Epoche nur dann, wenn die Bedarfsdeckung ohne deren kapitalistische Organisation zusammenbrechen würde“, also historisch erst im Europa „ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (M: S. 368). Bei Webers sich weitendem Blick auf die Genese der okzidentalen Rationalismen konzediert Müller erstmals, es gebe bei Weber eigentlich keine ‚Theorien‘, sondern stets werde „nur angedeutet, so weit wie nötig, und bleibt so wenig ausgearbeitet wie möglich“ (M: S. 111). Schön sind die kontrastiven Seiten zu „Puritanismus und Konfuzianismus“, denn warum hat die konfuzianische „Zivilreligion“ nicht zum kapitalistischen ‚take-off‘ geführt (M: S. 138 ff.)? Weber als Prozess- und Konflikttheoretiker (M: S. 149, 155), das ist eine Konvergenz mit Simmel. Dass aber eben keine Weber‘sche Theorie im emphatischen Sinne vorliegt, schon gar keine Gesellschaftstheorie oder auch nur -geschichte, lässt sich Müller zu Recht nicht ausreden (M: S. 273, 329, 415 u. passim). Wichtig freilich bleibt, dass alle Begriffe anti-essentialistisch gearbeitet seien (M: S. 223) – und sicher ist Webers Strategie, die allzu „große[n] Fragen durch eine Fülle von Studien ‚kleinzuarbeiten‘“ (M: S. 433), zumindest für ‚normale Forschung‘ im Sinne Thomas S. Kuhns beherzigenswert.
Im gelungenen Abschnitt zur sozialen Ungleichheit, der Webers Denken über Stand, Klasse(nlage), Kaste und so weiter auseinanderlegt und einen „multipel anschlussfähig[en]“ Weber präsentiert (M: S. 273), macht Müller, anders als etwa Reinhard Bendix in seiner klassischen Darstellung, der keine „Ausarbeitung eines strategischen Grundgedankens“ ermitteln kann,[44] „die Grundfrage seiner Soziologie“ (M: S. 266) aus: „Es wird Zeit, Webers Begriff zu revitalisieren, um ein geeignetes Auszeichnungsmerkmal der heutigen plutokratischen Verhältnisse der modernen Gesellschaft zur Hand zu haben“ (M: S. 281). Gegen Ende feiert Müller die über Vorlesungsmitschriften auf uns gekommene, späte Münchner Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1919/20 als „Juwel“ (M: S. 353). Aber müssen wirklich noch „Agrarverfassung“ der Vormoderne, „Gewerbe und Bergbau im vorkapitalistischen Zeitalter“ und so weiter ausbuchstabiert werden (M: S. 354, 360)? Und „Webers Bild der zerrissenen Moderne“ (M: S. 343, vgl. 391), das reicht nun wirklich nicht, um ihn heutigen Lesern anzudienen, denn zerrissen sind wir seit der Romantik, also reichlich 200 Jahren. Erst gerät Weber zum „Makrosoziologe[n]“ (M: S. 417), dann muss eingeräumt werden, Weber sei „vielleicht gar kein genuiner Soziologe, [...] sondern ein Meisterdenker“ (M: S. 428). Das geht für mich in Ordnung, schon deshalb, weil zwischen Einzelhandlung und persistierenden Herrschafts- oder Lebensordnungen bei ihm nicht vermittelt wird und er – wie übrigens auch Parsons – nie den Zugang zur konkreten Interaktion, ihrer strukturellen Determination und wiederum strukturierenden Aufbauleistung gefunden hat. Wie überhaupt ist es möglich, dass aus interessegeleitetem Handeln Institutionen resultieren? Weber hat sich diese Frage, ähnlich wie Durkheim,[45] doch sehr anders als zum Beispiel Simmel oder Arnold Gehlen, nie gestellt; zwischen Handeln und Ordnung klafft bei ihm ein Abgrund. Müller bleibt daher wohlweislich beim „Meisterdenker“, „[w]enn wir also wissen wollen, wie wir wurden, was wir sind, werden wir Weber lesen – vermutlich auch noch in hundert Jahren“ (M: S. 431). Das freilich sagen auch die Nietzscheaner, seit gut hundert Jahren.
Müller ist Emeritus für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat also Feinde. Dass die eigentlichen Weberianer manches als oberflächlich oder sträflich verkürzt veranschlagen werden, versteht sich; ich hingegen habe wenig an den „Tiefenbohrungen“ der Spurensuche auszusetzen, in scharfer Differenz zu den Emanationen ihres Gegenstands übrigens verfasst in flüssiger Prosa. Vielleicht nur, dass die sehr zahlreich genannten Monografien aus Soziologie und Ökonomie rezenteren Datums fast immer nur genannt werden, Seitenzahlen beziehungsweise nähere Belege sucht man meist vergebens; einem Studierenden ließe ich das nicht durchgehen, dem Emeritus schon. Dafür weist Müller, was unbedingt zu begrüßen ist, Weber stets nach den alten Bänden und der neuen Gesamtausgabe nach, sodass sich hier langes Suchen erübrigt. Und trotzdem, jetzt aber meta-kritisch: Vielleicht hat Müller seine Spurensuche in etwas zu breiter Extension angelegt? Jedenfalls fällt es mir schwer, unter heutigen Bedingungen noch einen studentischen Phänotyp zu imaginieren, der nach der Lektüre gerade neugierig auf Weber würde und nicht vielmehr meinte, nun wirklich alles über dessen Werk zu wissen. Das ist der Fluch der durch die modularisierten Studiengänge provozierten Einführungs- und Handbuchindustrie, die von der Lektüre der Originaltexte eher abhält. Dafür aber kann Müller nichts.